Strafrecht

Strafrecht Allgemeiner Teil

Rechtfertigungsgründe

Erlaubnistatbestandsirrtum beim Einzeltäter und vermeidbarem Irrtum

Erlaubnistatbestandsirrtum beim Einzeltäter und vermeidbarem Irrtum

24. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Klassisches Klausurproblem
Streitstand

O streckt seine Arme aus, um T zu umarmen. T deutet die Bewegung des O fälschlicherweise als Angriff und schlägt O zu Boden.

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Einordnung des Falls

Erlaubnistatbestandsirrtum beim Einzeltäter und vermeidbarem Irrtum

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. T hat den objektiven Tatbestand einer Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) erfüllt, indem er O zu Boden schlug.

Genau, so ist das!

Der objektive Tatbestand der Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) setzt in Form einer körperlichen Misshandlung eine üble und unangemessene Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit mehr als nur unerheblich beeinträchtigt wird voraus.Ts Schlag ist nicht hinwegzudenken, ohne dass Os Sturz entfiele (Kausalität). T ist die körperliche Misshandlung auch objektiv zurechenbar.
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2. Handelte T mit Vorsatz im Hinblick auf die Verwirklichung des objektiven Tatbestands?

Ja, in der Tat!

Der Täter muss vorsätzlich handeln, also in Kenntnis aller objektiven Tatbestandsmerkmale den Tatbestand verwirklichen wollen. Unterliegt er einer Fehlvorstellung im Hinblick auf die objektiven Tatbestandsmerkmale, so scheidet der Vorsatz aus (Tatumstandsirrtum, § 16 Abs. 1 S. 1 StGB).Indem T den O wissentlich und willentlich geschlagen hat, hat er eine körperliche Misshandlung des O mindestens billigend in Kauf genommen.

3. T handelte in Notwehr (§ 32 StGB). Seine Körperverletzung gegen O ist gerechtfertigt.

Nein!

Eine Notwehrlage setzt einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff durch einen Menschen voraus. Ein Angriff ist jede durch menschliches Verhalten drohende Verletzung rechtlich geschützter Güter oder Interessen. Entscheidend für die Beurteilung der Notwehrlage sind allein die objektiven Umstände. Diese sind aus Sicht eines neutralen Beobachters nachträglich (ex post) zu ermitteln.Rückblickend waren durch die bevorstehende Umarmung des O objektiv keine Rechtsgüter des T bedroht. T hat sich den Angriff nur vorgestellt (sog. Putativnotwehrlage).

4. Ist die rechtliche Behandlung des vorliegenden Irrtums über die tatsächlichen Umstände eines Rechtfertigungsgrundes in §§ 16, 17 StGB explizit geregelt?

Nein, das ist nicht der Fall!

§ 16 regelt den Tatumstandsirrtum, bei dem der Täter einen Tatumstand seines objektiven Tatbestands nicht kennt. § 17 regelt im Bereich der Rechtfertigungsgründe nur den Erlaubnisirrtum, bei dem der Täter zu seinen Gunsten einen Rechtfertigungsgrund annimmt, den die Rechtsordnung ihm so nicht gewährt.Über die Merkmale des objektiven Tatbestandes der Körperverletzung (andere Person, körperliche Misshandlung, Gesundheitsschädigung) irrt sich T nicht (=kein Tatumstandsirrtum, § 16 Abs. 1 S. 1 StGB). Die Rechtsordnung gewährt bei der vorgestellten Notwehrlage auch die Verteidigung in dem Umfang, den T beansprucht hat (=kein Erlaubnisirrtum, 17 StGB). Die rechtliche Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums ist umstritten.

5. Nach der „strengen Schuldtheorie“ hat sich T der vorsätzlichen Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht.

Ja, in der Tat!

Nach der strengen Schuldtheorie führen nur Irrtümer über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Delikts zum Vorsatzausschluss (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB) führen. Der Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungstatbestands sei dagegen als Verbotsirrtum iSv §17 zu behandeln. Die Strafbarkeit entfällt nur, wenn der Irrtum unvermeidbar war. Dies liegt vor, wenn der Täter trotz Einsatz und Anstrengung aller seiner Erkenntniskräfte und sittlichen Wertvorstellungen den Irrtum nicht hätte vermeiden können.Aufgrund von Os offenen Armen und seines lachenden Gesichts wäre es T leicht möglich gewesen, zu erkennen, dass kein Angriff vorliegt. Der Irrtum war vermeidbar.

6. Nach der „Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen“ hat sich T der vorsätzlichen Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht.

Nein!

Das Fehlen der Voraussetzungen von Rechtfertigungsgründen stelle die negativ formulierte Seite des (Gesamt-)Unrechtstatbestands dar. Diese liege vor, wenn objektiv und subjektiv keine Rechtfertigungslage besteht. Bei der irrigen Vorstellung des Bestehens von Rechtfertigungsgründen entfalle dagegen in direkter Anwendung des § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB der Tatbestandsvorsatz.Da T sich subjektiv eine Notwehrlage vorgestellt hat, scheidet nach dieser Theorie der Vorsatz in direkter Anwendung des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB aus.

7. Nach der „vorsatzunrechtsausschließenden eingeschränkten Schuldtheorie“ hat sich T der vorsätzlichen Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht.

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach dieser Theorie sei der Erlaubnistatbestandsirrtum zwar nicht mit dem Tatbestandsirrtum identisch. Eine direkte Anwendung des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB scheide damit aus. Er stehe ihm wertungsmäßig aber so nahe, dass § 16 Abs. 1 S. 1 StGB analog angewendet werden könne.Da T sich subjektiv eine Notwehrlage vorgestellt hat, scheidet nach dieser Theorie der Vorsatz in analoger Anwendung des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB aus.

8. Nach der rechtsfolgenverweisenden eingeschränkten Schuldtheorie hat sich T der vorsätzlichen Körperverletzung strafbar gemacht.

Nein, das trifft nicht zu!

Nach dieser Theorie sei zwischen Vorsatzunrecht und Vorsatzschuld zu trennen. Der Erlaubnistatbestandsirrtum lasse analog § 16 Abs. 1 S. 1 StGB nur die Vorsatzschuld entfallen, während das Vorsatzunrecht unberührt bleibe. Der Täter handele also vorsätzlich und rechtswidrig. Da die Vorsatzschuld entfällt, handele der Täter aber schuldlos.Da T nach der rechtsfolgenverweisenden eingeschränkten Schuldtheorie ohne Schuld gehandelt hat, scheidet auch hiernach eine Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Körperverletzung aus.

9. Ist vorliegend ein Streitentscheid notwendig?

Ja!

Ein Streitentscheid ist nur dann erforderlich, wenn die verschiedenen Lösungsansätze zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.Vorliegend kommt die strenge Schuldtheorie zu einer Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB), während nach den übrigen Ansätzen eine Vorsatztat ausscheidet. Hier ist somit ein Streitentscheid erforderlich. Gegen die strenge Schuldtheorie sprechen vor allem Billigkeitserwägungen. Der Täter möchte sich „an sich rechtstreu“ verhalten, weswegen es unbillig wäre, ihn wegen der Vorsatztat zu bestrafen.Eine Übersicht der Argumente für und gegen die strenge Schuldtheorie findest Du: hier !Da die übrigen Theorien beim Einzeltäter zu identischen Ergebnissen führt, musst Du Dich in diesem Fall nicht spezifisch für eine der drei hier entscheiden.

10. Wenn man sich gegen die „strenge Schuldtheorie“ entscheidet, bleibt T straffrei.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die übrigen Theorien schließen lediglich eine Strafbarkeit hinsichtlich der Vorsatztat aus. Eine mögliche Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tatbegehung bleibt davon unberührt (§ 16 Abs. 1 S. 2 StGB).Auch die fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) ist strafbewehrt. Ein besonnener und gewissenhafter Mensch, der dem Verkehrskreis des T angehört und sich in seiner konkreten Lage befindet, hätte aus den tatsächlichen Gegebenheiten nicht auf einen Angriff des O geschlossen. T hätte den Erlaubnistatbestandsirrtum also vermeiden können. Nach den übrigen Theorien hat er sich somit zumindest der fahrlässigen Körperverletzung strafbar gemacht.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Jonas22

Jonas22

26.6.2023, 15:34:48

Ihr schreibt in dem Einen Maßstabstext im Bereich der RECHTFERTIGUNGSGRÜNDE führe allein § 17 […]. Aber ist § 17 nicht ein Entschuldigungsgrund und kein Rechtfertigungsgrund?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

27.6.2023, 12:28:53

Hallo Jonas22, das ist absolut richtig. Allerdings geht es an der Stelle auch nicht um Rechtfertigung der

Tathandlung

, sondern um die Entschuldigung aufrgund eines Irrtums. Und

§ 17 StGB

ist die einzige Norm, die einen Irrtum über Rechtfertigungsgründe (Vorliegen/Nichtvorliegen) regelt. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

SI

sinaaaa

31.1.2024, 15:48:42

Ich verstehe nicht wann man Vorsatz bei dieser Theorie (eingeschränkte Schuldtheorie) bejaht und wann nicht?

F. Rosenberg 🦅

F. Rosenberg 🦅

11.11.2024, 16:37:34

Es gibt drei eingeschränkte Schuldtheorien: 1. Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen: Demnach ist das Nichtvorliegen eine Rechtfertigungsgrundes ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal. Beim ETBI irrt sich hiernach der Täter über einen Rechtfertigungsgrund und damit über einen Umstand, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört. Deswegen wird § 16 I 1 direkt angewandt mit der Rechtsfolge, dass der Vorsatz entfällt. 2. Vorsatzunrechtsausschließende, eingeschränkte Schuldtheorie: Demnach sind Tatbestandsirrtum und ETBI nicht identisch, aber wertungsmäßig so nahe, dass sie gleich behandelt werden müssen. Deshalb wird § 16 I 1 analog angewandt mit der Rechtsfolge, dass der Vorsatz entfällt. 3. Vorsatzschuldausschließende, eingeschränkte Schuldtheorie: Demnach sind Vorsatzunrecht und Vorsatzschuld zu trennen. Die Theorie wendet zwar auch § 16 I 1 analog an, ABER lässt nicht das Vorsatzunrecht (= Vorsatz) entfallen, sondern die Vorsatzschuld (= Merkmale der Schuld). Die Rechtsfolge ist, dass der Täter zwar vorsätzlich und rechtswidrig, jedoch schuldlos gehandelt hat.

MAG

Magnum

4.11.2024, 18:41:14

Kann mir jemand erklären wie es zu den Bezeichnungen "vorsatzunrechtausschließende" und "rechtsfolgenverweisende" eingeschränkte Schuldtheorie kommt? Ich kann mir das beim besten Willen nicht merken. Und Vorsatzunrecht meint die Verwirklichung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit in vorsätzlicher Weise, oder?


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